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Wieso wählt die Seele menschliche Begrenzung? Satsang Kolumne

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In der Satsang-Kolumne antwortet Dr. MoonHee Fischer, promovierte Religionsphilosophin, im Bereich der alternativen Heilung tätig, auf eure dringenden (Sinn-)Fragen. Schreibe dafür einfach eine Mail an redaktion@yogaworld.de. Heute: Warum wählen wir als universelles Bewusstsein die menschliche Begrenzung als Lebensform?

Es scheint, dass der Mensch noch nicht das ist, was er sein kann oder sein sollte. Der Mensch als Geistwesen ist mehr als die Summe seiner Atome und Moleküle. In seiner geistigen Komplexität ist er zu Reflexion, Gemeinschaft, Liebe und zur Wahrheit fähig. Mit dem Streben nach Wahrheit geht die Sehnsucht nach dem Schönen und Guten einher. Im Idealfall weiß der Mensch nicht nur darum, sondern er lebt das MENSCHSEIN. Nicht nur ansatzweise, sondern in seiner Ganzheit. Der ideale bzw. vollkommen bewusste Mensch ist der ganzheitlich-integrale Mensch. Dieser ist sich gewahr: Die Wahrheit ist EINE. Das, was wahr ist, ist EINS. Und das, was EINS ist, ist das GANZE. Wie Hegel es so schön sagt: “Das Wahre ist das Ganze.”

Das Eine ist nach Plotin, antiker Philosoph, die höchste Transzendenz oder das höchste Prinzip, welches selbst jedoch nicht zugänglich sei. Ist das Eine aber nicht erfahrbar, wäre das Wahre nicht das Ganze, sondern nur ein Teil davon. Das Eine ist deshalb das Eine und das Wahre, weil es in seiner Ganzheit alles ist, was ist. Wäre dem nicht so, wäre das Eine nicht Einheit, sondern Zweiheit oder Vielheit. Das Eineist also nicht ein Anderes oder Verschiedenes, vielmehr ist alle Vielheit in ihm eins. Bzw. ist sie das Eine selbst. Die Verschiedenheit ist in ihrem ursprünglichen Wesen Einheit. Die Transzendenz des Einen oder des Ganzen ist keine exklusive. Sondern ein inklusive.

Das heißt, dass das transzendente Eine nicht etwas Starres, in sich Abgeschlossenes ist. Es ergibt sich prozesshaft im stetigen Werden. Das universelle Eine steht mir nicht als abgeschlossenes Getrenntes gegenüber, sondern auch ich bin ein Teil des einen großen Ganzen. Es muss herausgestellt werden, dass Verschiedenheit nicht Unterschiedenheit bedeutet. Im universellen Einheitsbewusstsein wird die Verschiedenheit nicht nivelliert, sondern erhält gerade dadurch ihre Einmaligkeit zurück. Der Ursprung allen Seins ist Einer. Insofern alles ist, ist es Eines – ist es Eines, so ist es Alles.

Unsere Gedanken trennen

Das Problem des selbstbegrenzten Menschen liegt im Denken. Wo Gedanken sind, da ist Dualität;[1] und wo Dualität ist, findet man nur Teile und Begrenzungen und niemals das einheitliche Ganze. Da Grenzen von Natur aus nicht zur Wirklichkeit gehören, sondern von Menschen geschaffen werden, ist der Dualismus ein künstliches menschliches Artefakt und jede Grenze somit eine Illusion. Ken Wilber macht darauf aufmerksam: Linien trennen nicht, Grenzen aber schon. Grenzen ziehen, heißt Gegensätze herstellen.[2] Leider ist die Welt der Gegensätze eine Welt der Konflikte.[3] Aus diesem Grund sind die meisten Lebensprobleme hausgemacht oder klarer for­muliert. Das eigentliche Problem eines begrenzten Seins liegt nicht zwischen den Menschen, sondern zwi­schen dem Individuum und dem gefühlten Anderen.[4]

Die Vorstellung von Individualität als einem abgeschlossenen Ich entspringt der Geistestätigkeit eines dualistischen Denkens. Der Geist ist nur eine Anhäufung von Gedanken, welche ohne das Ich nicht existieren würden. Deshalb sind alle Gedanken vom Ich erfüllt.[5] Wenn es keine Duali­tät mehr gibt, tauchen auch keine Gedanken mehr auf, die den inneren Frieden, das reine universelle Gewahrsein, stören könnten. Wahrer Frieden kann nicht erkämpft werden, sondern stellt sich ganz von selbst ein, wenn wir von jeglicher mentalen Spaltung und Trennung loslassen. Dafür müssen wir jedoch bereit sein. Wir müssen zu Wissenden werden. Denn der Grund allen Leidens liegt in der Unwissenheit: Der Unwissenheit über das Wesen des wahren Selbst, welches gegenüber dem isolierten, getrennten Ich universelles, alles umfassendes Bewusstsein ist.

Im Vergleich zum Ich hat das wahre Selbst keine Grenzen. Es ist das nicht fassbare Eine ohne ein Zweites. Deshalb kann keine begrenzte Methode und kein Weg es je erreichen.[6] Das Selbst ist rein und absolut. Es hat kein Innen und kein Außen, es kennt weder Raum noch Zeit. Also auch keine menschliche Begrenzung. lle diese Begriffe existieren nur in der Vorstellung des Ichs. Damit das Selbst aufscheint, muss der Intellekt verschwinden,[7] denn der menschliche Geist ist unstet und rastlos. Die Phänomene auf der Ich-Ebene entstehen und vergehen. Das Selbst aber ist unendlich und ewig. Das Selbst oder universelle Bewusstsein überschreitet die Ebene der In­dividualität, so wie die Ebene der Realität.

Die Welt als Realität (lat. res: Ding) erfährt im Selbst eine erweiterte Wirklichkeit. Eine nicht aufknüpfbare, lebendig wirkende Potenzialität[8]. Von Verknüpfungen und Verbindungen. Diese erweiterte Wirklichkeit ist nur für den holistischen oder mystischen Menschen erfahrbar. Der ganzheitliche Mensch denkt und fühlt tiefer und umfassender als der gewöhnliche Mensch. Anders als der perfekte Realist, der alles sieht, was es an der Oberflächliche zu erkennen gibt, sieht er das Wesentliche sowie das Offensichtliche.[9] Er weiß: Wir erleben mehr, als wir begreifen (siehe auch die Frage zur Nahtoderfahrung und das Kapitel Leere, Fülle und Wirklichkeit in Moonhee Fischer Wir erleben mehr, als wir begreifen, St. Ottilien 2020).

Hin zur universellen Wirklichkeit

Die Wirklichkeit ist universal und Offenheit schlechthin, welche sich nur in einem ständigen Prozess des Darüber-Hinausgehens offenbart. Die Wirklichkeit ist nicht – sie wirkt! Und Wirklich­keit ist nur, wenn Wechselwirkung stattfindet. Der Mystiker ist keine Wissender im Sinne, dass er sich an dingliche Informationen klammert. Sein Wissen liegt in der Weisheit: “,Ich bin nichts‘ und die Liebe sagt: ,Ich bin alles‘”.[10] Nur in dem Prozess der gegenseitigen Durchdringung kann es eine liebende Gleichheit geben und nur dadurch ist kollektives Leben möglich. Hier sind weder Ich noch Dinge, sie sind in dem Sinne nicht, als sie für sich alleine und getrennt existieren würden. Die Wirklichkeit an sich ist erfahrbar. Denn nicht greifbar bedeutet nicht, nicht erfahrbar. Die KantischeZwei-Welten-Theorie muss abgelehnt werden. Eine nicht zugängige Wirklichkeit hinter den sichtbaren Dingen (Realität) gibt es nicht. Sie ist allerdings keine feste und starre Substanz, sondern dynamische Wechselseitigkeit und liebender Dialog.

Das, was der Erfahrung des universellen Bewusstseins entgegen steht, ist die festgefahrene Überzeugung, dass die Realität, die Welt der Dinge, einzig und allein wahr sei und alles scheinbar Nicht-Greifbare nicht sei. In unserer materiellen Welt haben wir den Blick für das große Ganze verloren, alles wird in seine Einzelteile zerlegt und alles Leben wird mechanisch gedeutet. Man muss dem Quantenphysiker Amit Goswami Recht geben, dass der negative Einfluss des materialistischen Realismus auf die Lebensqualität des modernen Menschen ersichtlich ist.[11] So schreibt er in seinem Buch Das bewusste Universum: “Der materialistische Realismus konfrontiert uns mit einem Univ­ersum, das ohne spirituelle Bedeutung ist: mechanisch, leer und einsam.”[12]

Die Tragik des modernen Menschen liegt darin, dass er den Materialismus als wissenschaftlich gegeben hinnimmt. Und “[w]enn die Materie das einzige Reale ist, wie uns der Materialismus weismacht, dann sind materielle Besitztümer die einzig passable Grundlage für ein glückliches und gutes Leben.”[13] So lebt der moderne Mensch nach Erich Fromm im Haben und nicht wie er sollte im Sein. Und weil er nicht ist, muss er umso mehr haben. Das Sein ist zu einem bloßen Haben mutiert. Das Sein ist aber mein urtümliches, wahres Wesen und ist vom Wesen der einen Wirklichkeit nicht zu trennen. Seinheit ist Einheit und damit universelles Bewusstsein, welches wiederum absolute Beziehung und Verbundenheit ist. Beide zusammen ergeben eine Ganzheit ohne Trennung. Vorausset­zung dafür ist die absolute Leere, im Sinne einer absoluten Offenheit. Nur sie vermag das Ganze in seiner Universalität zu erfassen.

Das wahre Sein ist, indem es gerade nicht ist. Wäre es, dann wäre es nicht. Nur indem das Sein, nicht ist, kann es alles sein, was ist. Wäre das Sein oder das wahre Selbst ein greifbares Etwas. So wäre es das Eine, aber nicht das Andere oder es wäre das Andere, aber nicht das Eine. Der Urzustand ist aber immer und überall der Gleiche. Wir erinnern uns: Das wahre Selbst ist universal und unveränderlich. Ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht.

Herabstieg zur menschlcihen Begrenzung für den Aufstieg

Genau in dieser Bewusstwerdung liegt das Werden des Menschen. Der Mensch wird Mensch, indem er sich entwird. In der Entwerdung wird er wahrhaft wissend und wirklich frei. Ken Wilber formuliert es so: “Wenn der Mensch erkennt, daß sein fundamentales Selbst [oder Sein] das Selbst des Kosmos ist, dann ist der augenscheinliche Tod individueller Formen nicht nur annehmbar, sondern gewollt. Nur Teile fallen dem Tod anheim, nicht das Ganze.”[14] Die menschliche Selbstbegrenzung kann nur durch den Willen zum Tod aufgehoben werden oder – weniger drastisch ausgedrückt – indem er loslässt.

Der metaphysische Tod liegt in der Transzendenz des greifbaren Dinglichen. Der Weg, der keiner Methode folgt (der Weg ist das Ziel), ist das Einlassen auf die absolute Leerheit allen Seins, auch Nullpunkt oder nichtlokales Bewusstsein genannt. Im nichtlokalen Quantenfeld ist alles mit allem verschränkt. Nichts existiert für sich alleine. Die Leere ist also kein nihilistisches Nichts, sondern universelle Fülle, die nichts anderes als Liebe ist. Die Liebe ruht in der Notwendigkeit des Nichts, einem Nichts, das ist. Denn ihr Wesen ist richtungslos und wem sie gilt, ist belanglos.[15] In der Annahme, dass wir mehr erleben, als wir begreifen, wirkt das liebende Nichts zu Gunsten des neuen, universellen Bewusstseins. Der tiefgreifende, erhoffte Wandel kann sich nur durch eine reine, positive Haltung in einem neuen Feld der Möglichkeiten einstellen. Im Sinne eines offenen und gemeinschaftlichen Ja.

Den Glauben, den Mut und den Willen dafür aufzubringen. Eben das bedeutet, ein Mystiker oder ein integral-holistischer Mensch zu sein. Der Mystiker, der kein Realist im klassischen Sinne ist, ist der noch nicht verstandene, reelle (wirkliche) Mensch von Morgen. Er ist reellster Mensch, insofern sein Bewusstsein den gängigen Zeitgeist, das begrenzende Man (Heidegger)übersteigt. Und er ist der Mensch von Morgen. Weil er uns als Visionär geistig voraus geht. Ein Visionär, den wir brau­chen, wenn die Reise in eine vereinte Menschlichkeit gelingen soll. Der Mensch von Morgen ist kein Mensch im Außen. Er ist der erwachte, lebendige innere Mensch in jedem von uns. David Steindl-Rast, Benediktinermönch, bringt es treffend auf dem Punkt [16]:

“Wir haben die Wahl zwischen Risiko und Risiko. Dem Risiko, daß wir ein Leben lang schlafen, nie­mals aufwachen. Oder aber wir wenden uns wachsam dem Risiko des Lebens zu, stellen uns der Her­ausforderung des Lebens, der Liebe.”

Der Liebende ist kein Trenner oder Unterscheider. Erst wenn die Menschheit das verstanden hat  bzw. lebt, hat er sein Menschsein erfüllt. In diesem neuen Bewusstsein wirkt, im Sinne von Teilhabe und Miteinander, die eine Wirklich­keit, das Absolute selbst. Dann wird das Unerreichbare greifbar und aus Ferne wird Nähe.


[1] Vgl. Ramana Maharshi Gespräche des Weisen vom Berge Arunachala 434, Interlaken 1993.

[2] Vgl. Ken Wilber Wege zum Selbst. Östliche und westliche Ansätze zu persönlichem Wachstum 34, München 1991.

[3] Vgl. ebd.

[4] Vgl. Bernadette Roberts Jenseits von Ego und Selbst. Erfahrungsbericht einer spirituellen Reise 164, Freiamt 1997.

[5] Vgl. Ramana Maharshi Gespräche des Weisen vom Berge Arunachala 421, Interlaken 1993.

[6] Vgl. Ramana Maharshi Gespräche des Weisen vom Berge Arunachala 263, Interlaken 1993.

[7] Vgl. Ramana Maharshi Gespräche des Weisen vom Berge Arunachala 14, Interlaken 1993.14.

[8] Vgl. Hans-Peter Dürr Geist, Kosmos und Physik. Gedanken über die Einheit des Lebens 8, Amerang 2010.

[9] Vgl. Erich Fromm Den Menschen verstehen. Psychoanalyse und Ethik 76, München 2014.

[10] Vgl. Sri Nisargadatta Maharaj Ich bin. Gespräche mit Sri Nisargadatta Maharaj 13, Bielefeld 1998

[12] Vgl. Amit Goswami in Zusammenarbeit mit Richard E. Reed und Maggie Goswami Das bewusste Universum. Wie Bewusstsein die materielle Welt erschafft 13, Freiburg im Breisgau 1995.

[13] Ebd.

[14] Ken Wilber Wege zum Selbst. Östliche und westliche Ansätze zu persönlichem Wachstum 103/104, München 1991.

[15] Vgl. Richard Gramlich Ahmad Ghazzali. Gedanken über die Liebe 4, Mainz 1976.

[16] David Steindl-Rast Fülle und Nichts. Die Wiedergeburt christlicher Mystik 12, München 1994.


Satsang von letzter Woche


Dr. MoonHee Fischer ist promovierte Religionsphilosophin und arbeitet im Bereich der alternativen Heilung. Ihre Schwerpunkte sind mediale Supervision und “Der Weg des Friedens“. Ihre Verknüpfung “spirituelle Medialität und wissenschaftlicher Anspruch” eröffnet nicht nur neue, interessante Ansätze für ein ganzheitliches Bewusstsein, sondern betont vor allem die Fähigkeit der Offenheit und das Mit- und Füreinander – “denn nichts existiert unabhängig voneinander”.

Portraitfoto von Elias Hassos | Titelfoto von von Eternal Happiness von Pexels

Der Beitrag Wieso wählt die Seele menschliche Begrenzung? Satsang Kolumne erschien zuerst auf Yoga World - Home of Yoga Journal.


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