In der Satsang-Kolumne antwortet Dr. MoonHee Fischer, promovierte Religionsphilosophin, im Bereich der alternativen Heilung tätig, auf eure dringenden (Sinn-)Fragen. Schreibe dafür einfach eine Mail an redaktion@yogaworld.de. Heute fragt Kerstin nach Leistungsdruck und Perfektionismus.
Kerstin: Ich weiß, dass ich für meine Lebensqualität langfristig meinen Perfektionismus und meinen Leistungsdruck ablegen muss. Allerdings erfordert ja schon der Prozess der Heilung, dass ich die Heilarbeit ohne Perfektionismus angehe. Weil zwanghaftes Suchen nach dem nächsten Kurs oder der nächsten Meditation macht mich nicht dauerhaft glücklich. Aber wie soll ich das Ganze anstellen, aus diesem Gedankenkreislauf auszusteigen? Denn da beißt sich doch die Katze in den Schwanz. Was kannst du mir raten?
Hedonismus als Zwang
Unsere westliche, materialistisch geprägte Gesellschaft ist auffallend stark hedonistisch geprägt. Das Streben nach maximalem Vergnügen ist heute keine positive Bereicherung mehr. Sondern zu einer erdrückenden Last, zu einem Pflichtprogramm geworden. Dies zeigt sich in einem immer mehr zunehmenden gesellschaftlichen Optimierungswahn. Höher, weiter, schneller, besser, schöner, klüger, reicher, gechillter etc.. Und wer da nicht mitmachen mag oder nicht mithalten kann, hat das Nachsehen. Leider sind wir alle davon betroffen. Bewusst oder unbewusst. Denn wir alle wollen Anerkennung und geliebt werden. Niemand möchte gerne alleine oder ein Außenseiter sein.
Unser angeborenes Gefühl nach Bezogenheit und Gemeinschaft öffnet uns einerseits für den anderen und lässt uns über uns selbst (Ich) hinauswachsen. Anderseits sind wir dadurch auch verletzlich und neigen zu emotionaler Erpressbarkeit. Was tun wir nicht alles, um dazuzugehören? Die sozialen Medien bedienen sich dieses Bedürfnisses nach Zugehörigkeit und sind deshalb so erfolgreich, weil unser modernes Weltbild auf Wettbewerb und Vergleichen beruht. Unser ganzes Leben ist komparativ, ob uns das gefällt oder nicht. Dadurch leben wir ständig in Bewertungen und Verurteilungen. Den anderen, aber vor allem uns selbst gegenüber. Ein Urteil oder eine Beurteilung wirkt immer wechselseitig. Wir alle kennen das Sprichwort. “Wenn du mit einem Finger auf andere zeigst, so zeigen drei Finger auf dich selbst.” Die Gewichtung liegt also auf uns selbst.
Das wahre Problem: die Selbstbewertung
Warum bewerten wir alles und jeden? – Weil wir uns selbst bewerten! Unglücklicherweise lernen wir nicht ein wahres Selbstbild – fern von Vergleichen – von uns zu entwickeln. Unsere Vorstellung von uns selbst speist sich hauptsächlich aus einer Ansammlung von äußeren Einflüssen, Informationen und Faktoren. Wie soll ich sein, wie soll ich nicht sein? Welche Dinge darf ich, was darf ich nicht? Was muss ich können und was nicht? Was bringt mir etwas und was nicht? Welches Verhalten wird von mir erwartet und was nicht? Unser modernes schnelllebiges Leben ist zielgerichtet. Auf Perfektionismus und Effizienz ausgerichtet. So wird unser Sein nicht von dem bestimmt, was wir sind oder sein könnten. Sondern vom dem, was wir denken sein zu müssen oder zu dürfen.
Die Folgen eines selbstentfremdeten Seins schüren Ängste und Unsicherheiten. Die Angst, den Ansprüchen des Lebens nicht gewachsen zu sein, und die ständige Unsicherheit, so wie man ist, nicht zu genügen. Versagensangst und das Gefühl von Unzulänglichkeit sind jedem bekannt. Jeder geht nur anders damit um. Der eine setzt sich noch mehr unter Druck und läuft wie ein Hamster im Rad, der andere stellt sich stur und hält bockig dagegen an und wieder ein anderer hat schon von Anfang aufgegeben und ist vollkommen phlegmatisch. Im schlimmsten Fall ist ihm alles gleichgültig. Alle drei Strategien sind für unser Wohlergehen nicht sehr dienlich. Die erste entfernt uns immer mehr von uns selbst, von unseren Wünschen und Bedürfnisse. Die zweite entfernt uns von unserer Mit- und Umwelt und erhöht die Gefahr einer Ich-Zentrierung. Und die dritte entfernt uns von uns selbst und zugleich von anderen.
Der Schlüssel: das Verständnis
Probleme oder eingefahrene, belastende Muster werden niemals durch Kompensation gelöst, sondern durch Verstehen und Verständnis. Beides fängt immer bei sich selbst an. Natürlich können wir für unser Verhalten nach Schuldigen Ausschau halten. Als Opfer kann man scheinbar die eigene Verantwortung abgegeben, aber in Frieden mit uns selbst kommen wir dadurch nicht. Denn das eigentliche Problem liegt weniger in seiner Verursachung, als darin, wie wir zu gewissen Erfahrung stehen oder wie wir sie bewerten. Alles ist eine Sache der Perspektive. Es liegt an uns, welche wir wählen möchten. Eine, die uns einengt und klein hält, oder eine, die uns bereichert und uns über uns hinauswachsen lässt?
Die größte Schwierigkeit liegt im Loslassen. Ich möchte betonen, dass man Negatives niemals durch Negatives aufheben kann. Konkret bedeutet das: Negatives darf nicht bekämpft werden! Damit machen wir alles noch schlimmer. Nicht durch Verneinung oder Ablehnung werden Probleme gelöst, sondern durch Bejahung und Annahme. Schlechte Gefühle sollten vermieden werden, denn sie bringen uns nicht weiter – sie setzen uns unter Druck und machen uns noch unglücklicher, als wir es davor schon waren. Will man diesen Teufelskreis durchbrechen, so muss man einen ganz neuen Anfang wagen. Dazu gehört ein wenig Mut, aber vor allem braucht es den Glauben und Willen zum Guten. Denn Positives wird nur durch Positives erlangt und niemals durch etwas Schlechtes. Aus Bananen kann man keine Erdbeermarmelade machen.
Alles für die Liebe
Wir wollen klug, schön, perfekt sein. Der Liebe wegen. Wir wollen ihrer und dem damit verbundenen Leben würdig sein. Und dafür geben einige ihr Bestes. Perfektionismus, das Streben nach dem Schönen und Guten, ist grundsätzlich ein schönes und positives Ansinnen, jedoch haben wir dabei den ursprünglichen Grund aus den Augen verloren. Wir machen und tun und tun und machen, und die Liebe oder das Gute, um das es geht, ist dabei längst auf der Strecke geblieben. Sie sind nicht mehr Weg und Ziel unserer Gedanken und Handlungen, sondern das Ziel ist Effizienz und Quantität. Der Weg, das Werkzeug, ist nun zum Ziel geworden, aber nicht in dem Sinne. Der Weg ist das Ziel, denn es gibt keinen Weg mehr, den man gehen könnte.
Das heutige Lebensmotto: Shortcut – von 0 auf 180. Unser ganzes Leben besteht nur noch aus Zielen ohne Wege. Aber ohne Wege zu gehen, leben wir in einer rein funktionalen Welt. Alles wird funktionalisiert und die Sache an sich hat keine Bedeutung mehr. Das macht uns hohl und leer und damit unglücklich. Nicht nur, dass es zu einer chronischen Überforderung kommt, schlimmer noch – ist die innerliche Einsamkeit. Wir fühlen uns von allem distanziert und unserer Freude und Leichtigkeit beraubt. Nach dem deutschen Ärzteblatt fühlt sich jeder zweite Deutsche vom Burnout bedroht.
Zu den Schwächen stehen
Um befriedigende Ziele und Leistung ohne Druck zu gewährleisten, braucht es innere Ruhe und Stabilität. Ein Weg wird wahrhaftig gegangen, indem man beim Gehen Zeit und Ziel vergisst. Wege gehen heißt, sich auf das Nächstliegende zu konzentrieren und die Konzentration geschieht von selbst, wenn wir bei dem, was wir tun, Freude haben. Die Freude stellt sich wiederum ein, wenn wir uns vergegenwärtigen, warum wir die Dinge tun, die wir tun. Wir dürfen uns dabei nicht an der Oberfläche aufhalten, sondern müssen zu unserem wahren Grund hinabsteigen. Unser tiefster Grund ist jedoch selbst – grundlos. Denn Wahrhaftiges, wie die Freude, die Liebe, das Gute, das Schöne, der Frieden, die Gerechtigkeit etc., braucht keinen Grund. Es erfreut sich an sich selbst. Das Wahre ist selbstgenügsam und weiselos. Kein Weg und kein Mittel führen dorthin. Das ist der tiefere Sinn der Aussage: “Der Weg ist das Ziel.”
Kurz gesagt: Ein Weg wird gegangen, indem man ihn beim Gehen vergisst. Den Weg vergessen heißt, sich selbst zu vergessen. Hier in diesem Kontext bedeutet das, dass wir aufhören müssen uns selbst zu funktionalisieren. Wenn wir uns selbst erniedrigen bzw. uns zu einem Ding reduzieren, wird paradoxerweise unser Ich nicht leiser, sondern lauter. Und dort wo ein Ich ist, kann es keine Freiheit von Urteilen und Bewertungen geben. Aus diesem Grund läuft der Perfektionismus allzu oft auf eine Härte und “Kleinkariertheit” heraus. Einen guten und nicht belastenden Anspruch an sich selbst und Welt erfüllt man durch Weichheit niemals durch Härte. Weichheit ist Stärke, die Großzügigkeit und Verständnis voraussetzt. Seine eigenen Schwächen zu sehen ist gut, aber sich klein zu machen, hilft niemandem. Deshalb müssen alle negativen Gedanken in positive umgewandelt werden. So auch der Perfektionismus. (Siehe hierfür die Frage: Wie negative Verhaltensmuster verändern?)
Satsang von letzter Woche

Dr. MoonHee Fischer ist promovierte Religionsphilosophin und arbeitet im Bereich der alternativen Heilung. Ihre Schwerpunkte sind mediale Supervision und “Der Weg des Friedens“. Ihre Verknüpfung “spirituelle Medialität und wissenschaftlicher Anspruch” eröffnet nicht nur neue, interessante Ansätze für ein ganzheitliches Bewusstsein, sondern betont vor allem die Fähigkeit der Offenheit und das Mit- und Füreinander – “denn nichts existiert unabhängig voneinander”.
Portraitfoto von Elias Hassos | Titelfoto von Rachel Claire von Pexels
Der Beitrag Perfektionismus & Leistungsdruck ablegen – Satsang Kolumne erschien zuerst auf Yoga World - Home of Yoga Journal.