In der Satsang-Kolumne antwortet Dr. MoonHee Fischer, promovierte Religionsphilosophin, im Bereich der alternativen Heilung tätig, auf deine dringenden (Sinn-)Fragen. Schreibe dafür einfach eine Mail an redaktion@yogaworld.de. Heute fragt Claudia nach dem Bewusstsein.
Claudia: Was ist Bewusstsein?
Ist alles, was ist, auf Materie gegründet? Ist Geist oder Bewusstsein nur ein Epiphänomen des Physischen? Ist der Geist an sich nicht bzw. ist Mentales identisch mit physischen Ereignissen? Oder sind Geist und Materie zwei völlig unterschiedliche, eigenständige Substanzen, so wie es René Descartes postuliert hat? Oder ist alles, wie es der Idealismus vertritt, nur Geist? Existiert die Welt nur, weil wir sie uns denken bzw. uns vorstellen? Bringt der Geist die Welt hervor, um sich in ihr zu erfahren und sich in ihr bewusst zu werden? In der Philosophie des Geistes oder in der Debatte des Leib-Seele-Problems gibt es viele Ansätze, Geist und Bewusstsein und damit verbunden die Interaktion von Materie und Geist zu erklären.
Wir sind mehr als die Ansammlung von Atomen
Der physikalische Monismus oder Reduktionismus ist nicht haltbar. Es gibt Geist und Geist ist kausal wirksam. Intuitiv wissen wir: Wir sind mehr als die Ansammlung von Atomen und Molekülen. Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Wer in Teilen und Trennung denkt, ist nicht nur Dualist, sondern begeht auch einen mereologischen Fehlschluss, so der Psychiater und Philosoph Thomas Fuchs. Er macht darauf aufmerksam, dass das lebendige Ganze weder auf Mikroprozesse reduziert noch durch sie erklärt werden kann (1). Die Ebene der Wahrnehmungen, Motive und Handlungen kann nur durch Lebensbezüge bzw. Lebenswelt verstanden werden. Anschaulich schreibt Fuchs in seinem Buch Das Gehirn – ein Beziehungsorgan: “Monika geht in die Schule – und nicht ihr Ich, ihr Gehirn oder ihre Beine.” (2) Ihre Beine stellen keine abgetrennten Objekte dar, die sie wie zwei Stücke Holz von hier nach da befördert.(3) Weiter führt er aus: Er-leben lässt sich nicht lokalisieren.(4) Es ist nicht mein Gehirn, das denkt, tanzt, liebt oder etwas Wunderbares erschafft. (5) Ich bin es, der tut und all das er-lebt – ich, als Ganzes, stehe mit meiner Umwelt in Beziehung und nicht Teile von mir. Leben, er-leben, ist Beziehung und Verbundenheit schlechthin.
Bewusstsein ist Verbindung
Wer Geist oder Bewusstsein erfassen möchte, muss größer bzw. in Bezügen denken. Die Spezialisierung der Naturwissenschaften hat zu einer objektiven und objekthaften Realität geführt; diese mag man zwar be-greifen und empirisch belegen können, jedoch ist der Preis eine Verflachung der Wirklichkeit. Einfachheit führt hier nicht zur Einheit, sondern zur Zerstückelung von Wissen. Eine weise Aussage von Albert Einstein ist: “Man soll die Dinge so einfach wie möglich machen, aber nicht einfacher.”
Das Wesen des Geistes ist Bewusstheit, und sich etwas bewusst zu sein, setzt Intentionalität voraus. Das bedeutet: Bewusstsein oder mentale Zustände sind immer auf etwas gerichtet – wir haben immer Bewusstsein von etwas. Bewusstsein ist ein relationaler Begriff. Alles steht in Beziehung und Wechselwirkung zueinander, und Bewusstsein ist das Vermögen, dies zu erkennen, aber vor allem die Erfahrung dessen. Somit ist Bewusstsein kein starres, greifbares Etwas, welches man lokalisieren und in seine Einzelteile zerlegen könnte, es ist soziale Interaktion, eine Art soziales Netz, das verbindet. Im oder durch Bewusstsein bin ich bei mir selbst und zugleich beim Anderen. Das, was Bewusstsein auszeichnet, ist, das es weder an eine Zeit noch an einen Ort gebunden ist. Relationalität ist überzeitlich und überräumlich. Bewusstsein oder Geist ist nicht Ich, geschweige denn ist es identisch mit Gehirn. Bewusstsein verweist auf etwas Größeres, auf etwas, was sich nicht begreifen und erfassen lässt. Das Vermittelnde oder Verbindende entzieht sich unserer Greifbarkeit, jedoch lässt es sich erfahren.
Bewusstsein ist universal
Wenn wir die oberflächliche Trennung von Subjekt und Objekt durchbrechen, da ich es bin, der sich des Objektes bewusst ist, dann erfahren wir: “Bewusstsein ist Reflexion oder Widerhall eines Außer-mir-seins. Der Sehende sieht das Gesehene, der Erkennende erkennt das Erkannte. In diesem Bewusstseinsstrom bin ich als Subjekt ein Ständig-ins-Andere-Geworfen-Sein (Objekt),indem ich bewusst bin, bin ich zugleich Anderes-Bewussthaben. Hier besteht einerseits die große Gefahr einer Selbstentfremdung, andererseits offenbart sich hier die große Chance der reinen Selbsterkenntnis, weil ich mehr beim Anderen bin als bei mir selbst bzw. bei meinem Ich. Denn Selbst-sein ist alles-sein außer Ich-sein. Alles-sein bedeutet eine Wirklichkeit ohne ein Zweites, Ich-sein bedeutet willkürliche, individuelle Realität.” (6)
Die Welt der Subjekte scheint eine Anhäufung von Bewusstseinen zu sein. Da gibt es das Bewusstsein von Anna, das von Herrn Müller, das von Mauzi, meinem Kater, dann gibt es noch das Bewusstsein der Deutschen, das der denkenden Philosophen und das der Fußballfreunde usw. Der Schein trügt – in (der) Wirklichkeit gibt es nur ein Bewusstsein, an dem alles teilhat, in dem alles mit allem verbunden ist. “Bewusstsein ist kein Privatbesitz, es ist universal.” (7) (Lese zum Thema „universelle Bewusstsein“ die Frage: „Warum wählen wir als universelles Bewusstsein die menschliche Begrenzung als Lebensform?“)
Bewusstsein öffnet die Tür, Bewusstsein und Realität zu transzendieren. Solange das begriffliche, dynamische Bewusstsein, das voller Konzepte ist, vorhanden ist, gibt es noch Glück und Unglück, gibt es noch richtig und falsch. Da das normale Alltagsbewusstsein sich nicht von Gegenteilen frei machen kann, kann es auch kein reines Glück und keinen wahren Frieden geben. (8) Nur in der Stille des Geistes, in der Entleerung des Realen, kann die Wirklichkeit aufscheinen.
(1) Vgl. Thomas Fuchs Das Gehirn – ein Beziehungsorgan. Eine phänomenologisch-ökologische Konzeption 65, Stuttgart 2017. (2) Ebd. 79. (3) Vgl. ebd. (4) Vgl. ebd. 49. (5) Vgl. ebd. 14. (6) Moonhee Fischer Wir erleben mehr, als wir begreifen. Studien zur Bedeutung und Interpretation des mystischen Wegesder Leere und Fülle in fünf religiösen Traditionen 245, St. Ottilien 2020 (7) Sri Nisargadatta Maharaj Bewusstsein und das Absolute. Die letzten Gespräche mit Srī Nisargadatta Mahārāj 29, Bielefeld 2013. (8) Vgl. ebd. 115.

Dr. MoonHee Fischer ist promovierte Religionsphilosophin und arbeitet im Bereich der alternativen Heilung. Ihre Schwerpunkte sind mediale Supervision und “Der Weg des Friedens“. Ihre Verknüpfung “spirituelle Medialität und wissenschaftlicher Anspruch” eröffnet nicht nur neue, interessante Ansätze für ein ganzheitliches Bewusstsein, sondern betont vor allem die Fähigkeit der Offenheit und das Mit- und Füreinander – “denn nichts existiert unabhängig voneinander”.
Titelfoto: Photo by T from Pexels
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