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“Yoga ist Verbundenheit”– doch wie verbunden sind wir wirklich?

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“Yoga ist Verbundenheit” – ist das eine schlichte Feststellung, ein Versprechen oder eher so etwas wie ein Arbeitsprogramm? Und was meinen wir überhaupt mit dem Begriff? Fest steht: ein Gefühl von Verbundenheit ist eine tiefe menschliche Sehnsucht – erst recht in Zeiten, in denen Einsamkeit und Spaltung zunehmen.

Text: Stephanie Schauenburg / Titelbild: Helena Lopes via Unsplash

Was ist Yoga?

Eine der vielen möglichen Antworten hört man immer wieder: Yoga ist Verbundenheit. Es beginnt schon beim Wort: “Yoga” stammt von der Sanskrit-Wurzel yuj ab, genau wie das deutsche Wort Joch oder das englische Verb to join. Daraus lässt sich schließen: Es geht darum, etwas zusammenzufügen, zu verbinden. Und genau das tun wir ja in der Yogapraxis: “Sobald wir auf unsere Yogamatte kommen und beginnen, uns auf unseren Atem zu konzentrieren”, schreibt die US-amerikanische Yoga-Pionierin Cyndi Lee auf yogajournal.com, “werden wir erinnert an unsere Verbindung zu etwas, das größer ist als wir selbst. Wir spüren Einheit mit anderen Menschen, mit anderen Wesen, mit allem, was ist. Diese universelle Verbindung zu spüren, ist ein natürlicher Auswuchs des Verbindens mit uns selbst.”

Das klingt nicht nur wunderschön, es ist auch unglaublich wohltuend. Ziemlich sicher hast auch du das beim Yoga schon so empfunden und es genossen, dich so angebunden, aufgehoben und gehalten zu fühlen. Die Sehnsucht nach diesem Gefühl von Verbundenheit ist uns Menschen tief eingeschrieben. Vielleicht beginnt sie schon in dem Moment, wo wir geboren werden, wo der eigene Körper plötzlich nicht mehr Teil des mütterlichen ist und wir zum ersten Mal getrennt werden. Dieser Gegensatz zwischen Verbundenheit und Abgrenzung begleitet uns ein Leben lang – und so balancieren wir auch immer aufs Neue zwischen dem Bedürfnis nach Zugehörigkeit und dem Wunsch nach Freiheit und Selbstbestimmung.

Gruppe von Freunden rennt gemeinsam Verbundenheit Freiheit
Foto: Jed Villejo via Unsplash

Trennungsschmerz

Allerdings leben wir in einer Kultur, die das Individuelle und Trennende viel mehr betont als das Verbindende. “In unseren modernen westlichen Industrienationen strebt offenbar alles in die Vereinzelung”, schreibt auch Anna Trökes in ihrem wunderbaren Buch “Yoga der Verbundenheit”. Noch nie haben so viele Menschen von sich gesagt: “Ich bin einsam.” Und obwohl wir im Schnitt deutlich sicherer und wohlhabender leben und sehr viel mehr Freiheiten genießen als frühere Generationen, fühlen sich viele von uns verunsichert, zerstreut und haltlos. Die Komplexität des modernen Lebens wirkt überfordernd und beängstigend. Viele ziehen sich in eine kleine soziale Blase zurück oder in virtuelle Welten. Isolation, Dissoziation oder Depression sind Themen, die gesellschaftlich immer relevanter zu werden scheinen.

„Lebendigsein heißt, dass unser eigenes Sein aufs Innigste mit dem anderer verbunden ist.“

– Anna Trökes

Der Autor und spirituelle Berater Marc Nepo drückt es in seinem Bestseller “More Together Than Alone” so aus: “In einer Gesellschaft, die so sehr darauf aus ist, alles zu biegen, zu brechen und zu konsumieren, bringen wir enorme Energien dafür auf, uns sowohl persönlich als auch kollektiv übermäßig zu schützen. Mit dieser ständigen Wachsamkeit, laugen wir uns aus.” Verhärtung und Misstrauen sind seiner Meinung nach überall auf dem Vormarsch, sei es nun im Privaten, oder beispielsweise in der Diskussion über Flucht und Migration, in Diskriminierung, Ausgrenzung oder Polarisierung: “Wir lassen nichts mehr herein: andere Menschen nicht und auch nicht die Welt. (…) Dabei haben uns alle großen spirituellen Lehrer dazu aufgefordert, die Welt durch unsere Herzen hindurchgehen zu lassen – mit einem Wort: Liebe.

Entfremdung als Wurzel globaler Krisen

Auch wenn man sich unsere drängendsten politischen und ökologischen Probleme ansieht, wird man den Eindruck nicht los, dass sie ihre tieferen Wurzeln in dem Gefühl von Trennung und Entfremdung haben, in einem Mangel an Liebe. Denn es ist klar: Würden wir kollektiv mehr Verbundenheit empfinden, könnten wir gar nicht so unerbittlich gegeneinander kämpfen und uns gegenseitig und die Natur so rücksichtslos ausbeuten, wie wir es nach wie vor tun.

Mehrere Händen halten Baumstamm, Yoga und Verbundenheit
Foto: Shane Rounce via Unsplash

Der Naturphilosoph Andreas Weber spricht in unserem Interview mit ihm, sogar von einer “toxischen Gewaltwelt”. Aber was machen wir nun mit dieser Diagnose? Was könnte helfen, individuell und vielleicht auch gemeinsam mehr Verbundenheit zu leben? Yoga? Yoga ist schließlich Verbundenheit! Vielleicht ahnst du es: Ganz so einfach ist es natürlich nicht mit der “Alles ist eins”-Yogaphilosophie, die wir so gerne als instagramtaugliche Kalendersprüchlein vor uns her tragen. Daher an dieser Stelle ein kurzer Überblick darüber, von welchen philosophischen Konzepten eigentlich die Rede ist, wenn gesagt wird, dass Yoga Verbundenheit sei.

Yoga-Philosophie erklärt: Tat Twam Asi

Am berühmtesten und wirkmächtigsten für die Vorstellung vom Yoga der Verbundenheit sind sicher die Zeilen aus der Chandogya beziehungsweise der Brihadaranyaka Upanishad: tat twam asi (“Das bist du”) und aham brahmasmi (“Ich bin Brahman”). Dahinter steht die Überzeugung, dass all die Millionen und Milliarden Lebewesen, Dinge und Phänomene, aus denen unsere Welt besteht, von einem einzigen kosmischen Wirkprinzip ausgehen – und auch untrennbar mit ihm verbunden bleiben: Brahman. Wir alle sind Brahman, ich und du, jede Blume, jeder Vogel und jede Wolke im Frühlingshimmel. Wir mögen uns verlieren in Gedanken, Ängsten, Aggressionen und Spekulationen, aber das alles geht ebenso vorbei wie unsere irdische Existenz. Was bleibt, ist das Unendliche, Ewige, das Eine, dem wir nicht nur alle angehören, sondern das wir selbst sind: tat twam asi, das bist du …

Ausgehend von dieser Philosophie des Advaita-Vedanta gibt es mächtige Traditionslinien, unter anderem im Buddhismus und Tantrismus, die die Alles-in-Einem-Idee des antiken Indien bis in die heutige Zeit hineingetragen haben. Die früheren Yogis setzten sich auf unterschiedliche Art mit diesen philosophischen Konzepten auseinander. Je nach Richtung verstanden sie Yoga als Zustand der Einheit oder als den Weg des Verbindens, wobei sie, wie die Londoner Forscher James Mallinson und Mark Singleton in ihrem Buch “Roots of Yoga” erläutern, durchaus verschiedene Vorstellungen davon hatten, was hier genau mit was verbunden wird: das individuelle mit dem höheren Selbst, der Körper mit dem Geist, verschiedene Ebenen der Realität oder gar die Überwindung jeglicher Dualität …

Alles eins – aber nicht einerlei

Hände halten Verbundenheit
Foto: Joe Yates via Unsplash

Selbst im großen “Alles ist eins” ist also offenbar nicht alles einerlei. Dabei ist in der klassischen Yogaphilosophie noch nicht einmal ausgemacht, dass Yoga überhaupt Verbundenheit bedeutet. Es könnte bei der Yogapraxis auch genau um das Gegenteil von Verbundenheit gehen: um haarscharfe Unterscheidung, um die Trennung zwischen dem geistigen Prinzip (Purusha) und der materiellen Natur (Prakriti). Der Kronzeuge für diese Definition ist ausgerechnet derjenige Text, den wir im modernen Yoga am allermeisten rezipieren: Patanjalis Yogasutra. Dort lautet das Ziel nicht Verbundenheit, sondern: Kaivalya, was übersetzt werden kann als Abgesondertheit, Losgelöstheit oder sogar Isolation. Gemeint ist die ultimative Befreiung, die darin liegt, sich von allen Verhaftungen und Bedingtheiten zu lösen. Und zwar alleine.

Diesen scheinbaren Widerspruch zwischen der Verbundenheit mit dem All-Einen und dem Ziel der Befreiung durch Loslösung kann man auf philosophischer Ebene auflösen (sofern man sich für solche intellektuellen Abenteuer interessiert). Aber wahrscheinlich ist das an dieser Stelle gar nicht so wichtig. Denn spiegelt sich in den alten indischen Weisheitslehren nicht auf wunderbare Weise wider, was wir auch aus der modernen Psychologie wissen: dass der Wunsch nach Verbundenheit in uns ebenso tief angelegt ist wie der nach Autonomie? Es geht nicht darum, sich für das eine oder das andere zu entscheiden, sondern darum, eine Balance, eine Synthese herzustellen.

Podcast-Tipp: Auch wir YogaWorld-Redakteurinnen haben uns mit dem Thema Verbundenheit auseinandergesetzt:

Warum wir heute mehr Verbundenheit brauchen

Dabei ist die Situation für uns heute und hier wie gesagt grundlegend anders als noch für unsere Großmütter: Wir sind kaum noch eingebunden in eine Religion, eine Sippe, eine gesellschaftliche Rolle. Wir genießen diese Freiheit und leiden zugleich an ihr. Viele von uns spüren: Wir brauchen mehr Verbundenheit – und Yoga könnte ein Weg dorthin sein. Aber nur weil wir alle paar Tage ein paar Sonnengrüße machen, werden wir da nicht unbedingt hinkommen. Und selbst wenn es so wäre, würden sich aus bewusster, erlebter Verbundenheit nicht automatisch Harmonie, Frieden, Erfüllung ergeben – so sehr wir uns das natürlich wünschen.

Glückliche Yogaklasse in Natur
Foto: Marea Wellness via Unsplash

Sich ein kuscheliges rosa Wolkenkuckucksheim der Verbundenheit zu erträumen, hat mehr mit Bedürfnissen und Erwartungen zu tun als mit tatsächlicher Verbindung. Anna Trökes beschreibt in ihrem Buch Yoga der Verbundenheit als einen facettenreichen Übungsweg, beginnend mit intensiver Selbsterforschung. Sie beschloss, ihren “Fokus nicht nur im Alltag, sondern auch in der Übungspraxis ganz auf die Entfaltung von Verbundenheit auszurichten” – und bemerkte schon bald, dass Yoga so eine deutlich andere Wirkung entfaltete: Sie wurde nicht nur selbst immer “weicher, durchlässiger, freundlicher”, sie erkannte auch, wie sehr die von trennenden Kräften geprägten gesellschaftlichen Normen uns alle in unserem Denken und Handeln beeinflussen.

Wissenschaft trifft Spiritualität: Alles Leben ist verbunden

Diese trennenden Kräfte sind eine Realität – aber genauso real ist die schon von den antiken indischen Weisen des Advaita Vedanta erkannte Verbundenheit allen Lebens: Man muss es nicht Brahman nennen, man kann sich, wenn einem das näher ist, auch an die modernen Naturwissenschaften halten, die mehr und mehr darüber herausfinden, wie alles Leben aufeinander bezogen und verbunden ist.

Das beginnt schon bei unserem Atem, über den wir ein Leben lang in Austausch sind mit der uns umgebenden Welt. Ähnliches gilt für den Stoffwechsel: Am Ende unseres Lebens wird sich unser gesamter Körper viele Male komplett umgebaut und erneuert haben. Alle Zellen werden unablässig durch neue ersetzt, bestehend aus neuen Bausteinen, die wir über Atmung und Nahrung aufnehmen und wieder ausscheiden, bevor sie an anderer Stelle wieder zu Leben werden.

Das sind nur ein paar wenige Beispiele aus der menschlichen Biologie. Die universelle Verwobenheit findet sich auch in Botanik, Physik, Chemie, Astronomie – ein riesiges, unfassbar komplexes Netzwerk aus Ökosystemen, Mikro- und Makrokosmen, in dem alles mit allem verbunden ist. Es wandelt sich unablässig, ist in seiner Grundstruktur aber unveränderlich und ewig. Und all das bist auch du: Tat twam asi.

Vom Verstand in die Erfahrung

Faszinierend? Sicher, aber viel wichtiger noch ist es, Verbundenheit auch zu spüren, zu erfahren. Die Yogapraxis bietet dazu viele Gelegenheiten: Beim Meditieren, Atmen und körperlichen Üben verbinden wir uns mit uns selbst und daraus kann sich, wie Cindy Lee es ausgedrückt hat, auch eine Verbindung entwickeln zu dem, was “größer ist als wir selbst”. Auf dieser spirituellen Ebene können wir erfahren, dass wir eigentlich gar nichts verbinden müssen, weil wir längst verbunden sind. Damit lösen wir die verschiedenen kleinen und großen Konflikte, Dissonanzen und die Gefühle des Abgetrenntseins nicht unmittelbar, geschweige denn vollständig auf. Aber die Erfahrung von grundlegender Verbundenheit hilft uns, dem Dissonanten besser zu begegnen. Wir erkennen zum Beispiel: Auch im Streit, auch in der völligen Verschiedenartigkeit von Wesensart, Kultur oder Meinung gibt es noch einen verbindenden Urgrund.


Hier findest du einige praktische Tipps, um Verbundenheit bewusst zu erfahren:


Alleine auf der Yogamatte, dem Meditationskissen werden wir Verbundenheit nicht verwirklichen. Man muss immer wieder auch aus seiner eigenen Bubble und seiner Komfortzone heraus, die schützenden Hüllen abstreifen und sich auf andere Menschen, andere Wesen, auf dieses ganze verrückt komplizierte Leben einlassen – oder, wie Marc Nepo es ausgedrückt hat, “die Welt durch unsere Herzen hindurchgehen lassen”. Auch Patanjali stellt vor die Loslösung in Kaivalya erst die praktische Ethik der Yamas und Niyamas – und dann das Einüben der auch im Buddhismus so zentralen vier heilsamen Geistesqualitäten (Bhavanas): Maitri (Wohlwollen, Güte), Karuna (Mitgefühl), Mudita (Mitfreude), Upeksha (Nachsicht) – alles Qualitäten der Verbundenheit.

Lesetipp: Erfahre hier noch mehr über die Grundbegriffe des Buddhismus: “Auf Buddhas Spuren: Die Parallelen zwischen Yoga und Buddhismus von Timo Wahl

Resonanz statt Rückzug

Dass diese Qualitäten nicht nur eine persönliche, sondern auch eine gesellschaftliche Relevanz haben, hat der Soziologe Hartmut Rosa mit seinem Buch über Resonanz aufgezeigt. Dass Resonanz etwas völlig anderes ist als eine harmonisierende Selbstbestätigung, ein rosa Wolkenkuckucksheim, darauf hat er unter anderem in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung hingewiesen: “Eigentlich verstehe ich unter Resonanz, bereit zu sein, sich irritieren und verändern zu lassen.” So sehr wir uns also danach sehnen, uns in der Verbundenheit zugehörig und geborgen zu fühlen, so sehr müssen wir auch bereit sein, uns einzulassen, uns aufzumachen – und möglicherweise zu verändern.

„Alle großen spirituellen Lehrer haben uns dazu aufgefordert, die Welt durch unsere Herzen hindurchgehen zu lassen – mit einem Wort: Liebe.“

– Marc Nepo


Das Zitat von Marc Nepo hat YOGAWORLD JOURNAL Chef-Redakteurin Stephanie Schauenburg besonders inspiriert: Sie versucht, die Welt jetzt öfter “durch ihr Herz hindurchgehen zu lassen” – leicht bei einer sonnig-sanften Frühlingsbrise, schwieriger, wenn gerade ein Heft in die Druckerei muss …


Noch mehr zum Thema Verbundenheit und Verbindlichkeit liest du hier:

Der Beitrag “Yoga ist Verbundenheit” – doch wie verbunden sind wir wirklich? erschien zuerst auf Yoga World.


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