Durchschauen Sie Ihre Denkmuster und Überzeugungen und erfahren Sie die Freiheit, Ihr wahres Selbst zu leben.
Beim Unterrichten einer Yogastunde rutschte Laura aus und verletzte sich das Fußgelenk. Trotzdem unterbrach sie die Klasse nicht einmal für 2 Minuten, um nachzusehen, was überhaupt passiert war. Nichts da, schließlich lautet Lauras Yogamotto: „Durch den Schmerz hindurchgehen“. Als sie einige Tage später endlich zum Arzt ging, stellte sich heraus, dass sie den Fuß mindestens einen Monat lang nicht belasten durfte. Für Laura war das mehr als nur eine schlechte Nachricht. Es löste eine Identitätskrise aus. Seit sie ein Teenager war, hatte sie ihren starken Körper als Quelle ihres Wohlbefindens und ihres Selbstbewusstseins erlebt, als Erwachsene machte sie ihn sogar zu ihrer Einkommensquelle. Zwar konnte sie auch verletzt noch unterrichten, der Unfall eröffnete ihr sogar die Möglichkeit, ihr Verständnis von Alignment zu vertiefen. Dennoch hat es sie zutiefst verunsichert, weil das „Ich“, als das sie sich bisher wahrgenommen hatte, so eng mit ihrer Körperlichkeit verknüpft war. Natürlich ist Laura klar: „Ich bin nicht mein Körper.“ Aber das ändert nichts an ihren Gefühlen – und die sind seit dem Unfall geprägt von Ängsten und Selbstzweifeln.
Georg hat ein anderes Problem: Seine Frau hat ihm kürzlich eröffnet, dass sie einem anderen Mann begegnet ist und sich eine offene Beziehung wünscht. Georg ist geschockt, er fühlt sich sitzengelassen und aus der Bahn geworfen. Es quälen ihn Gedanken wie: „Ich bin ein Versager in Beziehungen“ oder „Ich bin nicht liebenswert.“ Im Grunde ist seine Verunsicherung aber gar nicht so verschieden von Lauras. „Ich weiß nicht mehr, wer ich bin, wenn der Mensch, den ich liebe, mich nicht mehr will“, sagt Georg. Bei Laura heißt es: „Ich weiß nicht mehr, wer ich bin, wenn ich mich nicht mehr auf meinen Körper verlassen kann.“ Beide haben eine Verletzung ihres Selbstgefühls erlebt. Ein Psychologe würde vielleicht sagen, der äußere Schlag habe einige der Risse im Gefüge ihrer Identität aufgebrochen und damit Gefühle ans Licht gebracht, die wohl in der Kindheit wurzeln. Aus yogischer Sicht ist dieses Gefühl von Identitätsverlust dagegen eine Einladung, sich einer anderen Frage zu stellen: „Wer glaube ich zu sein?“ Denn tiefer als am eigentlichen Trauma, tiefer selbst als an den aufgewühlten alten Verletzungen und dem Gefühl des Aus-der-Bahn-geworfen-Seins, leiden Laura und Georg an einem grundlegenden Missverständnis. Die Quellentexte des Yoga nennen es Avidya – die Unwissenheit, wer wir eigentlich sind und was unserem Sein und dem gesamten Universum zugrunde liegt. Eine Krise wie die von Laura oder Georg ist eine Gelegenheit, diese fundamentale Unwissenheit zu erkennen und das Wesen von Identität besser zu verstehen. Denn wenn sich alles, auf das man sich verlassen hat, in Luft auflöst, erhascht man nicht nur einen Blick auf die Risse in der eigenen psychologischen Infrastruktur, man bekommt auch Gelegenheit, die Wurzel des Problems zu untersuchen – und sich womöglich davon zu befreien.
Das Wissen vom Unwissen
Das Sanskrit-Wort Vidya bedeutet Wissen oder Weisheit: Damit ist jene Weisheit gemeint, die man durch tiefe Praxis und Erkenntnis erwirbt. Die verneinende Vorsilbe „a“ weist auf einen Mangel, ein Nichtvorhandensein hin. Im yogischen Verständnis bedeutet Avidya daher etwas, das weit über schlichte Unwissenheit hinausgeht. Avidya beschreibt eine grundsätzliche Blindheit gegenüber der Realität. Also nicht einen Mangel an Information, sondern die Unfähigkeit, die eigene tiefe Verbindung zu anderen, zur Quelle allen Lebens und zum wahren eigenen Selbst zu erfahren und zu erkennen. Avidya hat viele verschiedene Schichten und Ebenen und zieht sich auf vielfältige Weise durch das gesamte Leben: Es beeinflusst unsere Überlebensstrategien, unsere Beziehungen, unsere kulturellen Vorurteile, die Dinge, nach denen wir uns sehnen, und jene, die wir fürchten. Sämtliche Spielarten von Ahnungslosigkeit und vernebelter Wahrnehmung sind Formen von Avidya. Hinter all diesen Phänomenen liegt das Unvermögen zu erkennen, dass wir alle Geist sind und dass wir diesen Geist mit jedem Atom des Universums teilen.
Ganz typische Beispiele für das Wirken von Avidya sind die Gewohnheit zu denken, dass andere Menschen einen besser behandeln sollten, und das Phänomen, dass man die Bestätigung eines anderen braucht, um sich gut zu fühlen. Die meisten von uns „wissen“, dass das Unsinn ist: Mitmenschen handeln häufig, ohne sich der Wirkung ihres Verhaltens überhaupt bewusst zu sein und wenn man das eigene Selbstwertgefühl davon abhängig macht, wie andere über einen denken, dann ist das in etwa so sinnvoll wie der Versuch, im Klamottenladen Zucchini zu kaufen. Wenn uns also jemand darauf aufmerksam macht, dass wir für unseren Gemütszustand in Wirklichkeit selbst verantwortlich sind, dann liegt es auf der Hand, zu denken: „Klar, weiß ich!“ Aber dieses intellektuelle Wissen ändert leider nichts daran, wie wir uns fühlen und wie wir handeln. Es hält Sie nicht davon ab, Ihre Freunde, Partner und Kinder zu umschmeicheln oder unter Druck zu setzen, in jedem Fall aber zu manipulieren, damit sie sich so verhalten, wie sie sich Ihrer Meinung nach verhalten sollen – zum Beispiel damit Sie ständig der Liebe Ihrer Familie versichert werden oder man Ihnen genügend Beweise dafür gibt, gebraucht zu werden. Intellektuelles Wissen hat da- bei offenbar keine praktische Konsequenz. Damit aus Wissen Vidya wird, also echte Weisheit, müssen Sie auf einer viel tieferen Ebene verstehen lernen. So lange das nicht geschieht, werden Sie leiden – sei es nun auf der Ebene der Beziehungen mit all ihren Verwirrungen und Schmerzen, oder unter jeder anderen Form von Avidya.
Patanjalis Definition
Im Yogasutra II.5 nennt Patanjali vier Merkmale, die darauf hindeuten, dass man in Avidya hineingerutscht ist. Jeder dieser Punkte beschreibt eine Art, wie wir oberflächliche Erkenntnisse für Realität halten. Das ruft uns dazu auf, genauer hinzusehen und forschend hinter das zu blicken, was unsere Sinnesorgane, unsere kulturellen Vorurteile oder unsere vom Ego gesteuerten Glaubensstrukturen uns mitteilen. „Avidya“, heißt es in diesem Sutra, „hält das Unbeständige für ewig und das Unreine für rein, Avidya verwechselt Leid mit Glück und Nicht-Selbst mit wahrem Selbst.“ Die Auseinandersetzung mit diesem Text ist eine wunderbare Anleitung zu einem tieferen Nachdenken über den illusionären Charakter von Überzeugungen. Man muss nur einen flüchtigen Blick in die Geschichte wer- fen, um zu sehen, dass jeder wissenschaftliche und kulturelle Fortschritt darauf beruht, dass Vorstellun- gen und Überzeugungen, die unsere Vorfahren noch für selbstverständlich gehalten haben, infrage gestellt wurden: Ist die Erde wirklich der Mittelpunkt unse- res Planetensystems? Ist Materie immer fest? Gleiches gilt für die persönliche Entwicklung. Das wichtigste Anliegen des Yogasutra ist es, die Vorstellungen über unsere Identität infrage zu stellen. Dabei eröffnet es zugleich auch einen guten Blick auf die alltäglicheren Formen unserer Unwissenheit.
Lassen Sie uns Patanjalis vier Merkmale einmal ein- zeln betrachten, um uns klarzumachen, auf wie viele Phänomene von Unwissenheit sich Patanjalis Defini- tionen anwenden lassen.
„Das Unbeständige für ewig halten“: Wir finden diese Täuschung zum Beispiel in der ganz banalen Weigerung, aus dem Wissen heraus zu handeln, dass fossile Rohstof- fe irgendwann zur Neige gehen, oder dass man nicht dauernd über Asphalt joggen kann, ohne dass die Knor- pel leiden. Sie steckt auch in dem hoffnungsvollen Glau- ben, dass Ihre romantische Leidenschaft ewig anhalten wird oder dass die Liebe eines anderen Menschen Ihnen
DAS WICHTIGSTE ANLIEGEN DES YOGASUTRA IST ES, DIE VORSTELLUNGEN ÜBER UNSERE IDENTITÄT IN FRAGE ZU STELLEN.
innere Sicherheit geben kann. Auf einer tieferen Ebene hält diese Form von Avidya Sie davon ab anzuerkennen, dass Ihre Vorstellung von „ich“, „meine Persönlichkeit“ oder „mein Selbst“ nicht dauerhaft und schon gar nicht ewig ist. Genau wie Ihr Körper ein sich ständig wandelndes Ge- bilde aus Atomen ist, so verändert sich auch Ihr inneres Selbstgefühl andauernd, denn es besteht aus Gedanken darüber, wer oder wie Sie sind („ich bin hübsch“, „ich bin verwirrt“), aus Gefühlen wie Glück oder Unruhe und aus Stimmungen wie Traurigkeit oder Hoffnung – und all das unterliegt stetigem Wandel.
„Das Unreine für rein halten“: Man könnte das bei spielsweise darauf beziehen, dass in Flaschen gekauftes Wasser für besonders sauber gehalten wird. Oder darauf, dass man meint, als Vegetarier, Buddhist oder Yogi so erhaben zu sein, dass man gegen das im Leben unvermeidliche Leiden gefeit sei. Auf einer tieferen Ebene beschreibt dieses Sutra jene Täuschung, die dazu führt, dass man einen vergänglichen Gemütszustand – ein komplexes Zusammenspiel von Gedanken, Gefühlen und Körpereindrücken – für reines Bewusstsein oder wahres Selbst hält.
„Leid mit Glück verwechseln“: Diese Form von Avidya hat die meisten von uns zum Narren gehalten, seit wir uns zum ersten Mal leidenschaftlich ein bestimmtes Spielzeug gewünscht haben. Wir waren überzeugt, es wäre das Allergrößte, dieses Ding endlich zu besitzen – und haben uns schon bald damit gelangweilt. Echte Freude dagegen ist ein natürliches Entzücken, das spontan aus unserem Inneren aufsteigt: die Freude am Leben selbst. Nicht dass ein romantisches Rendezvous, eine erfüllende Yogastunde oder ein köstliches Essen keine Freude und keine Glücksgefühle triggern könnten. Aber das Glück, das von etwas Bestimmtem abhängt – und sei es etwas so Subtiles wie eine Meditation – ist immer endlich, und wenn es endet, hinterlässt es ein Gefühl der Leere.
„Nicht-Selbst mit wahrem Selbst verwechseln“: Darin steckt die Essenz, der Dreh- und Angelpunkt der gesamten Struktur von Avidya. Die meisten von uns identifizieren sich nicht mit ihrem Körper allein, sondern auch mit jedem vorübergehenden Gemütszustand und mit jedem flüchtigen oder wiederkehren- den Gedanken über sich selbst. Damit verkennen wir, dass es in unserem Inneren etwas gibt, das unwandelbar, freudvoll und bewusst ist. So kommt es, dass jemand wie Laura, deren wahres Selbst weit, strahlend und voller Liebe ist, das Gefühl hat, ihr Leben sei ein Scherbenhaufen, nur weil ihr Fußgelenk beim Yogaüben einen Knacks bekommen hat.
Weckruf
Zusammengenommen führen all diese Erschei- nungsformen von Avidya dazu, dass man in einer Art Trancezustand lebt: Man ist sich zwar dessen bewusst, was an der Oberfläche deutlich sichtbar ist, aber unfähig, die diesen Erscheinungen zugrunde- liegende Realität zu erkennen. Da diese individuelle Trance von den Überzeugungen und Glaubenssätzen der uns umgebenden Kultur vollständig gestützt wird, fällt es den meisten Menschen schwer, überhaupt zu begreifen, dass ein Schleier existiert, der die eigent- liche Realität verhüllt. Diesen Schleier zu lüften und Avidya vollständig zu durchbrechen, ist das wichtigste Ziel des philosophischen Yoga – und das erfordert eine radikale Verschiebung des Bewusstseins. Die gute Nachricht ist: In dem Moment, in dem Sie erkennen, dass Sie träumen, beginnen Sie, aus diesem Schlaf zu erwachen. Nun können Sie sich daran machen, sich von den Manifestationen von Avidya zu befreien, in- dem Sie den Wahrheitsgehalt von Vorstellungen und Gefühlen konsequent hinterfragen.
Avidya lässt uns glauben, dass unsere Gedanken und Gefühle für etwas identisch mit der Sache selbst seien. Diese Täuschung können Sie überwinden, indem Sie sich ansehen, was Ihnen Ihr eigener Geist üblicher- weise erzählt, und indem Sie seine Schlussfolgerungen dazu hinterfragen. Dann gehen Sie einen Schritt tiefer und beobachten, wie Gefühle Gedanken erzeugen und wie umgekehrt Gedanken Gefühle erzeugen – und stellen fest, dass die Realität, die Sie daraus konstru- ieren, tatsächlich auch genau das ist: ein Konstrukt.
Eine wunderbare Möglichkeit, der eigenen Avidya auf die Schliche zu kommen, besteht darin, sich auf das erste bewusste Gefühl einzustimmen, das am Morgen nach dem Aufwachen aufsteigt. Kürzlich fiel mir auf, dass ich mehrere Morgen hintereinander mit dem Gefühl aufwachte, ich sei einsam und ein bisschen traurig, was eigentlich ziemlich ungewöhnlich für mich ist. Aber was lief da genau ab? Ich tauchte aus dem Halbschlaf auf und blickte in einen grauen Himmel, denn in dieser Woche gab es viel Nebel. Ich nahm eine dumpfe, schwere Energie in meinem Kör- per wahr. Und schon Sekunden später nahm etwas in mir Besitz von diesen Empfindungen, es identifizierte sich damit („ich bin traurig“) und weitete sie aus zu einer düsteren, grauen inneren Landschaft. Dieser automatisch ablaufende Prozess wird im Yoga beschrieben als das Wirken des „Ich-Machers“, oder Ahamkara. Damit ist die mechanische Tendenz gemeint, aus den einzelnen Komponenten der inneren Erfahrung ein „Ich“ zu konstruieren. Der innere Text, der dabei ablief, war in etwa: „Oh nein, schon wieder so ein grauer Tag. Dieser ewig graue Himmel macht mich ganz depressiv. Ich muss aus diesem Klima raus! Aber nein, ich sollte es nicht aufs Wetter schieben. Das bin ich. Das liegt doch in der Familie, so depressiv zu sein. Es ist völlig hoffnungslos, da rauszuwollen.“ Die Folge: Schon bevor ich einen Fuß aus dem Bett gesetzt hatte, war ich bereit, den Tag komplett abzuschreiben.
Weil der Gedankenstrom so allgegenwärtig ist und die Gewohnheit, sich damit zu identifizieren, so tief in uns wurzelt, muss man sich schon etwas anstrengen, um zu erkennen, was in so einem Moment eigentlich abläuft. Tun Sie es dennoch, werden Sie immer wie- der feststellen, dass die Mechanismen der Identifikation und Selbst-Definition im Autopilot ablaufen. Diese sind genau wie der Ticker, der am unteren Bildschirmrand von Nachrichtensendern mitläuft: Stimmungen, Gedanken und sogar das Selbstgefühl in Endlosschleife. Manches kommt immer wieder, anderes wird aus- getauscht, aber in jedem Fall zieht es einfach vorbei. Das Problem – Avidya – entsteht nur, weil man sich damit identifiziert. Mit anderen Worten: Sie sagen sich nicht, „hier gibt es Traurigkeit“, sondern „ich bin traurig“. Sie denken nicht, „das ist eine brillante Idee“, sondern „ich bin brillant“.
Wir erinnern uns: „Avidya hält das Unbeständige für ewig und das Unreine für rein, Avidya verwechselt Leid mit Glück und Nicht-Selbst mit wahrem Selbst.“ In unserem inneren Universum bedeutet das, dass man eine Idee oder ein Gefühl gewohnheitsmäßig für „ich“ oder „meines“ hält. Und als Folge daraus beurteilt man sich selbst als gut oder schlecht, rein oder unrein, glücklich oder unglücklich. Dabei ist keines dieser Gefühle „ich“. Sie ziehen nur vorüber. Es stimmt, dass sie tiefe Wurzeln haben können – schließlich hat man sich oft schon seit Jahren mit ihnen identifiziert. Dennoch ist es genauso unsinnig, mich über dieses traurige Nebelmorgen-Gefühl zu definieren, wie wenn der Schauspieler, der Julius Cäsar mimt, von der Bühne kommt und den Bühnenarbeitern Befehle erteilt, als seien sie seine Soldaten. Trotzdem geschieht genau diese Identifikation ständig.
An einem dieser trüben Morgen beschloss ich, mit meinem Gefühl zu arbeiten (was ich vermutlich nicht getan hätte, wäre ich mit einem fröhlichen Gefühl aufgewacht). Ich schloss die Augen, atmete in den unteren Bauch, spürte das sinnliche Vergnügen der Atemwahrnehmung im Körper und beobachtete meine Gefühle. Ich vergegenwärtigte mir, dass ich nicht meine Gedanken bin. Ich nahm wahr, dass die Traurigkeit wie eine dunkelblau getönte Brille wirkte, die jede Wahrnehmung einfärbte: Der ausbleibende Rück- ruf einer Freundin wirkte wie eine Zurückweisung, dabei war sie nur sehr beschäftigt wegen irgendeiner Deadline. Die Blätter der Eiche vor meinem Fenster schienen traurig nach unten zu hängen, obwohl mir an einem sonnigen Tag sicher aufgefallen wäre, dass sie kräftig himmelwärts sprießen.
Dann kam tatsächlich die Sonne hervor. Innerhalb weniger Sekunden löste sich meine Traurigkeit auf. Jetzt war der Selbst-Identifikationsmechanismus sofort damit beschäftigt, mir zu erzählen: „Ich bin glücklich. Das war alles nur eine Reaktion auf das trübe Wetter. Mir geht’s eigentlich wunderbar. Ich bin nämlich im Grunde ein positiver Mensch. Gut dass ich die Wahrnehmungsübung gemacht habe. Es hat funktioniert.“ Eine Falle. Denn eigentlich war mein Geist im selben Prozess gefangen wie zuvor: Er schnappte sich die Stimmung und identifizierte sich damit, er beschrieb sie als „glücklich“ und folgerte „ich bin glücklich“. Um mich von Avidya zu lösen, muss ich mich also auch von der Identifizierung mit der glücklichen Stimmung lösen.
Spannend dabei ist, wie die Verwechslung von Nicht-Selbst (also der Stimmung) mit wahrem Selbst unweigerlich zu Gefühlen führt: einerseits Aversion („ich ertrage es nicht, so deprimiert zu sein“), andererseits Anhaftung („ich fühle mich so viel besser, jetzt, wo die Sonne scheint“). Diese Gefühle lösen Ängste aus – in diesem Fall die Befürchtung, die Traurigkeit sei dauerhaft, schwerwiegend und unausweichlich.
Den Schleier lüften
Avidya aufzulösen, ist ein vielschichtiger Prozess. Ein einzelner Vorstoß reicht dafür selten aus. Da verschiedene Aspekte von Avidya auf verschiedene Typen der Praxis ansprechen, empfiehlt die indische Tradition mehrere Arten von Yoga: Liebevolle Devotion (Bhakti Yoga) bekämpft die Unwissenheit des Herzens, selbstloses Handeln (Karma Yoga) richtet sich gegen die Tendenz, Lob und Lohn zu erwarten und daran anzuhaften, Meditation (Raja Yoga) soll den rastlosen Geist bändigen. Aber egal, auf welcher Ebene Sie ansetzen: Es wird sich etwas verändern.
WIR SOLLTEN FORSCHEND HINTER DAS BLICKEN, WAS UNSERE SINNESORGANE, UNSERE VORURTEILE ODER UNSERE VOM EGO GESTEUERTEN GLAUBENSSTRUKTUREN UNS MITTEILEN.
Jedes Mal, wenn es Ihnen gelingt, während einer schwierigen Situation bewusst zu bleiben, befreien Sie sich von einem Stück Avidya. Das kann auf zig verschiedene Arten geschehen. Zum Beispiel wenn Sie Ihr Bewusstsein für Ihre Verbindung und Verantwortung gegenüber der Erde erhöhen, indem Sie Ihre Sinne schärfen für Energien in Wind, Wasser und Bäumen. Oder wenn Sie Ihr Bewusstsein für Ihre Verbindung mit anderen Menschen schärfen, indem Sie besonders gut zuhören und einen liebevollen Umgang pflegen – aber ebenso indem Sie Ihre Aufmerksamkeit auf Ihr Herzzentrum lenken und versuchen, sich von diesem inneren Ort aus in Ihre Mitmenschen einzufühlen. Sie erhöhen Ihr Bewusstsein für sich selbst, indem Sie Ihre blinden Flecken wahrnehmen oder indem Sie Ihre Emotionen und deren Effekte auf den Körper beobachten.
Sitzen mit dem Selbst
Meditationsformen, die Sie an Ihr reines Sein heranführen, können Ihnen helfen, die tieferen Schichten der Unwissenheit aufzulösen, die dazu führen, dass Sie sich automatisch mit ihrem Körper, ihren Stimmungen, Gedanken oder Wesenszügen identifizieren. Tag für Tag und Moment für Moment besteht die Möglichkeit, immer neue Aspekte und Nuancen von Avidya zu durchbrechen – jedes Mal, wenn Sie Ihre Aufmerksamkeit nach innen richten und die tiefere Bedeutung eines Gefühls oder einer körperlichen Reaktion reflektieren. Das ist nicht nur eine wichtige Schlüsseltechnik der spirituellen Praxis, sondern auch eine praktische Selbsthilfemaßnahme. Zum Beispiel indem sich Georg fragt: „Stimmt es wirklich, dass die Affäre meiner Frau mein Selbstgefühl beschädigt?“ So bekommt er Gelegenheit zu erkennen, dass das Verhalten seiner Frau keine Aussage darüber darstellt, wer er ist. Das lindert seine Ängste und ermöglicht es ihm, nach vorn zu blicken. Wenn er nun wahrnimmt, wo genau in seinem Körper Traurigkeit und Verunsicherung spürbar sind, und wenn er die Empfindungen rings um seine Traurigkeit aufspürt, kann er vielleicht auch der Wurzel seiner Ängste auf die Spur kommen. Er könnte dann zum Beispiel erkennen, dass er versteckte Überzeugungen in sich trägt (etwa: „ich bin nicht liebenswert“) und dass diese Überzeugungen womöglich aus der Kindheit stammen, aber nichts mit der jetzigen Situation zu tun haben. Dann könnte er mit den traurigen Gefühlen arbeiten, sie vielleicht ausatmen oder die schmerzhafte Überzeugung durch einen positiven Gedanken ersetzen und beobachten, welche Wirkung diese Techniken auf seinen Gemütszustand haben. So könnte die Selbsterforschung ihn stärken und ihm helfen, sich darüber klar zu werden, wie er mit dem Wunsch seiner Frau nach einer offenen Beziehung umgehen möchte.
Avidya ist eine tief verwurzelte Gewohnheit des Geistes, aber eine Gewohnheit, die man auflösen kann – mit klarer Intention, Übung und einer Menge Hilfe vom Universum. Jede Situation, die dazu führt, dass wir unsere Annahmen über die Realität hinterfragen, hat das Potenzial, den Schleier zu lüften. Patanjalis Sutra über Avidya ist nicht nur eine Definition über das Problem der Unwissenheit. Es ist auch der Schlüssel zu seiner Lösung. In dem Moment, wo Sie einen Schritt zurück- treten und alle jene Überzeugungen, die Sie für ewig und unveränderlich halten, infrage stellen, werden Sie beginnen, den wundersamen Fluss zu begreifen, der Ihr Leben ist. Wenn Sie sich fragen: „Was ist die eigentliche Quelle des Glücks?“, erweitern Sie Ihren Fokus und gelangen über die äußerlichen Glückstrigger hinaus zum eigentlichen Gefühl von Glück. Und wenn Sie danach streben, die Unterscheidung zwischen Nicht- Selbst und wahrem Selbst zu ergründen, wird sich der Schleier irgendwann vielleicht vollständig heben. Dann werden Sie erkennen, dass Sie nicht nur der oder diejenige sind, der Sie glauben zu sein, sondern ein Teil vom Großen, vom Ganzen: hell, weit und frei.
SALLY KEMPTON ist eine international bekannte Meditationslehrerin und schreibt seit vielen Jahren im YOGA JOURNAL über Yogaphilosophie und Persönlichkeitsentwicklung. Einige ihrer Bücher liegen auch auf Deutsch vor.
www.sallykempton.com
Der Beitrag Wer bin ich wirklich? erschien zuerst auf Yoga World - Home of Yoga Journal.